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Verfahrensgang

AG Frankfurt/Oder, Beschl. vom 10.06.2021 – 7 UR III 17/20
OLG Brandenburg, Beschl. vom 18.01.2022 – 7 W 117/21 (IPRspr 2022-127)

Rechtsgebiete

Kindschaftsrecht → Abstammung

Leitsatz

Soll die Abstammungsvermutung einer ausländischen Rechtsordnung, die - wie die 300-​Tage-​Regel - der deutschen Rechtsordnung fremd ist, durch im Gleichrang konkurrierende Willenselemente überwunden werden, so ist nach einer möglichst weitgehenden Entsprechung für die Wirkung von Willenserklärungen zu suchen. Zur Durchbrechung einer Abstammungsvermutung, die auf den (Nach-​) Wirkungen einer Ehe beruht, ist neben den Erklärungen des Anerkennenden und der Mutter auch die Zustimmung des (vormaligen) Ehemanns erforderlich.

Rechtsnormen

BGB § 1592; BGB § 1594; BGB § 1599
EGBGB Art. 19
FamFG § 26; FamFG §§ 158 ff.; FamFG §§ 173 ff.
PStG § 51

Aus den Entscheidungsgründen:

(Randnummern der IPRspr-Redaktion)

[1]Die Eintragung im Geburtenregister für das am … geborene Kind der Antragstellerin darf derzeit nicht berichtigt werden, weil sie nicht unrichtig ist.

[2]Die Beschwerde stellt die Fallkonstellation zur Entscheidung, für die dem Gesetz weder eine deutliche Rechtsfolgeanweisung zu entnehmen ist noch auch nur eine Wert- oder Zielbestimmung, die zur Regelung einzelner Fälle verwendet werden könnte:

[3]Ein Ausländer erkennt in Deutschland die Vaterschaft für ein Kind an, das sodann von einer in Deutschland wohnenden Ausländerin hier geboren wird, deren Ehe mit einem anderen Ausländer vor der Geburt geschieden wurde. Nach dem Recht des Staates, dem die geschiedenen Eheleute angehören (hier: polnische 300-​Tage-​Regel) ist der geschiedene Ehemann Vater des Kindes; er beteiligt sich nicht an der Regelung der Vaterschaft durch Erklärungen der Beteiligten.

[4]Einigkeit besteht allein über den Gleichrang zwischen dem Recht Deutschlands anhand des Aufenthaltsortes des Kindes (Art. 19 I 1 EGBGB) und dem Recht des Staates, dem die Eltern angehören (Art. 19 I 2 EGBGB).

[5]In Kommentarliteratur und Rechtsprechung werden auf dieser Grundlage alle denkbaren Lösungsvarianten vertreten:

[6]Der bereits vor der Geburt erklärten Anerkennung gebühre der Vorzug vor der rechtlich vermuteten Vaterschaft, die auf bereits beendeter Ehe beruhe. Die durch Anerkennung bewirkte Vaterschaft treffe zum einen häufiger mit der genetischen Abstammung zusammen als die des früheren Ehemannes. Zum anderen sehe das deutsche Abstammungsrecht (§ 1592 Nr. 2 BGB) die freiwillige Übernahme der Vaterschaft durch den neuen Partner der Mutter als günstige Lösung für das Kind an (MüKo-​BGB-Helms, BGB, 8. Aufl. 2020, Art. 19 EGBGB Rdnr. 20, 23; BeckOK-​BGB-Heiderhoff, Stand: Nov. 2021, Art. 19 EGBGB Rdnr. 27).

[7]Die Günstigkeit für das Kind, dessen Lebensverhältnisse sich nach den Üblichkeiten seines Aufenthaltsortes bestimmen könnten, könnte aus einem weiteren Grund für einen Vorrang deutschen Sachrechts sprechen: Bei einem Aufenthalt in Deutschland sei so der Normwiderspruch auf kollisionsrechtlicher Ebene aufzulösen. Es spreche nichts dafür, der aus einer Ehe abgeleiteten Vaterschaftszuordnung auch dann Vorrang zuzusprechen, wenn diese Zuordnung sich allein aus dem Heimatrecht eines Beteiligten ergebe, dem deutschen Sachrecht aber fremd sei (KG, FamRZ 2020, 1478, 1480 (IPRspr. 2020-8)).

[8]Auf Erwägungen zur Günstigkeit könnte es nicht ankommen, wenn ihnen in den Prioritätsregelungen ein Anhaltspunkt nicht entnommen werden könnte: Die Zulässigkeit der Anerkennung schon vor der Geburt (§ 1594 IV BGB) diene allein dazu, den Beteiligten die Anerkennung zu erleichtern. Der Anerkennung vor der Geburt würden dadurch keine weitergehende Rechtsfolgen zugeordnet als der Anerkennung nach der Geburt (für den Nachrang nachgeburtlicher Anerkennung: BGHZ 215, 271, Rdnr. 19 ff. (IPRspr. 2017-155); BGH, NJW 2017, 3447, Rdnr. 15 (IPRspr. 2017-144b)). Weder diese noch jene Anerkennung könne sich daher gegen die mit der Geburt vermutete Vaterschaft durchsetzen, deren Vermutungswirkung auf dem Gesetz, nicht auf einer Anerkennung beruhe (§ 1594 II BGB). Die Anerkennung werde daher jedenfalls erst nach Beseitigung der kraft Gesetzes zugewiesenen rechtlichen Vaterschaft wirksam, also nach statusdurchbrechender allseitiger Zustimmung (§ 1599 II BGB) oder nach Anfechtung (OLG Düsseldorf, FamRZ 2020, 357, 359 (IPRspr. 2019-151); Staudinger-Rauscher, BGB, Neub. 2011, § 1594 Rdnr. 52).

[9]Günstigkeit und Priorität könnten hinter der Verfügungsbefugnis der Beteiligten zurückstehen: Die nach dem Heimatrecht des geschiedenen Ehemannes bestehende Vaterschaftsvermutung habe kein größeres Gewicht als die nach deutschem Recht bestehende Vaterschaftsvermutung zu Gunsten des Anerkennenden. Bei der danach bestehenden Gleichrangigkeit der beiden Vaterschaftsvermutungen helfe das Prioritätsprinzip nicht weiter. Habe das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland und könne deshalb deutsches Recht anwendbar sein, so könne ihm durch entsprechende Anwendung des § 1599 II BGB zum mutmaßlich richtigen, nämlich den sozialen Verhältnissen entsprechenden Vater verholfen werden. Die Anfechtung der Vaterschaft des geschiedenen Ehemannes der Mutter könne durch eine statusdurchbrechende Anerkennung ersetzt werden, vorausgesetzt der geschiedene Ehemann stimme der Vaterschaftsanerkennung zu. Verweigere er allerdings – wie ihm hier zu entscheidenden Fall – seine Zustimmung, so bleibe nur die Möglichkeit, seine Vaterschaft anzufechten (Staudinger-Henrich, BGB, Stand: Jan. 2021, Art. 19 EGBGB Rdnr. 45.2).

[10]Der Senat hält es vor allem für entscheidungsleitend, bei der Beurteilung, welches Ergebnis für das Kindeswohl am besten oder für die weiteren Beteiligten am günstigsten ausfallen könnte, nicht den individuellen Fall zu betrachten, also nicht die Verhältnisse der konkret um die Vaterschaft konkurrierenden Personen.

[11]Dafür spricht zum einen die generelle Wertung des deutschen Rechts, eine materielle, nicht eine rein kollisionsrechtliche Entscheidung zu treffen. Diese materielle Entscheidung ist darauf ausgerichtet, durch abstrakte Regeln die für das Kindeswohl wesentlichen Bedingungen zu verwirklichen: Dazu gehören neben der Abstammungsrichtigkeit und der Abstammungsklarheit vor allem die Abstammungssicherheit; maßgeblich sind deshalb neben biologisch-​naturwissenschaftlichen Zusammenhängen auch voluntative sowie soziale Komponenten (BeckOK-​BGB-Heiderhoff, Art. 19 EGBGB Rdnr. 27; ebenso i. Erg.: KG, FamRZ 2020, 1478, 1480 (IPRspr. 2020-8)).

[12]Zum anderen ist das Personenstandsverfahren nicht dafür eingerichtet, die persönlichen Verhältnisse der Beteiligten und ihre Beziehungen zueinander in Einzelheiten aufzuklären, festzustellen und danach zu bewerten, welcher personenstandsrechtliche Status sich für das Kind am besten und für die weiteren Beteiligten wenigstens zuträglich auswirken könnte. Dazu bedarf es eines persönlichen Eindrucks von den Beteiligten, der durch eine Anhörung zu gewinnen wäre. Die Prognose über die Entwicklung des neugeborenen oder jedenfalls noch sehr jungen Kindes könnte nur mit sachverständiger Hilfe angestellt werden. Das dazu geeignete Verfahrensrecht steht den Familiengerichten zur Verfügung, wenn sie eine Kindschafts- oder eine Abstammungssache zu entscheiden haben (§§ 158 ff., 173 ff. FamFG). Für das personanstandsrechtliche Verfahren fehlen Instrumente zur Aufklärung sozialer Bezüge. Spezielle Normen für persönliche Anhörungen, für die Bestellung eines Verfahrensbeistandes und für psychologische Gutachten müssten durch einen Rückgriff auf die allgemeine Norm zur Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts ersetzt werden (§§ 51 I 1 PStG, 26 FamFG). Dass, anders als für andere Verfahren, eine spezialgesetzliche Ausformung nicht für erforderlich gehalten wurde, zeigt die Beschränkung des personenstandsrechtlichen Verfahrens auf den Nachweis naturwissenschaftlicher Zusammenhänge wie die biologische Abstammung und auf die Maßgeblichkeit verbindlicher Erklärungen der Beteiligten. Aspekte der Abstammungswahrheit und vor allem des Kindeswohls sind dem Personenstandsrecht zwar nicht fremd, die statusrechtliche Zuordnung und ihre Beurkundung soll aber nicht von der Beurteilung sozialer Beziehungen abhängen. Abweichungen von herkömmlicher Abstammungsgewissheit und von gesetzlichen Vermutungen, die solchen Gewissheiten mehr oder minder gut Wirkung verschaffen, haben die Beteiligten in eigener Verantwortung durch Erklärungen zu bewirken, wenn das Abstammungsrecht einem solchen Willenselement Vorrang einräumt, oder sie müssen diese Erklärungen durch dazu vorgesehene Gerichtsentscheidungen in Abstammungsverfahren ersetzen.

[13]Soll die Abstammungsvermutung einer ausländischen Rechtsordnung (Art. 19 I 2 EGBGB), die – wie die 300-​Tage-​Regel – der deutschen Rechtsordnung (inzwischen) fremd ist, durch im Gleichrang (Art. 19 I 1 EGBGB) konkurrierende Willenselemente überwunden werden, so ist nach einer möglichst weitgehenden Entsprechung für die Wirkung von Willenserklärungen zu suchen. Das führt zu der – oben nachgewiesenen – entsprechenden Anwendung des § 1599 II BGB: Zur Durchbrechung einer Abstammungsvermutung, die auf den (Nach-​)Wirkungen einer Ehe beruht, ist neben den Erklärungen des Anerkennenden und der Mutter auch die Zustimmung des (vormaligen) Ehemannes erforderlich. Auf diese Weise beruht die Vermutung der Kindeswohldienlichkeit dieses personenstandsrechtlichen Status auf den frei verantworteten Erklärungen der Beteiligten, die sich trotz etwaiger gegenläufiger Interessen und Neigungen auf diesen Status des Kindes verständigen konnten.

[14]Da der geschiedene Ehemann der Antragstellerin der Anerkennung der Vaterschaft durch einen anderen Mann nicht zugestimmt hat, kann sich die Anerkennung gegen die Abstammungsvermutung, die auf der geschiedenen Ehe beruht, erst durchsetzen, wenn die gesetzlich vermutete Vaterschaft in dem dafür vorgesehenen Gerichtsverfahren erfolgreich angefochten ist. Ob für die Anfechtung der Wille einzelner oder aller Beteiligter maßgeblich sein soll oder die naturwissenschaftliche Abstammungsgewissheit, ist anhand der maßgeblichen Normen des Abstammungsrechts zu beurteilen, nicht im personenstandsrechtlichen Verfahren.

[15]...

Fundstellen

LS und Gründe

FamRZ, 2022, 870
MDR, 2022, 899
NJW-RR, 2022, 586
StAZ, 2022, 209
IPRax, 2023, 305

nur Leitsatz

FF, 2022, 176
IPRax, 2023, 197

Bericht

Flindt, NZFam, 2022, 521

Aufsatz

Mayer, IPRax, 2023, 264

Permalink

https://iprspr.mpipriv.de/permalink/2022-127